Rechtzeitigkeit der Aufklärung eines Patienten vor einer Operation

OLG Koblenz, 15.12.2005 – 5 U 676/05

Ein Patient muss vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahren kann.

Der Kläger wurde nach einem schmerzhaften Leistenbruch in dem von der Beklagten betriebenen Krankenhaus in der Abteilung für Viszeral- und Gefäßchirurgie aufgenommen und am selben Tag operiert. Am Vortag der Aufnahme hatte der Kläger die Ambulanz der Beklagten aufgesucht. Ob er an diesem Tag untersucht und über die geplante Operation aufgeklärt wurde, konnte in der Beweisaufnahme nicht festgestellt werden. Postoperativ litt der Kläger über einen längeren Zeitraum unter erheblichen bis extremen Schmerzen. Es wurde eine weitere Operation erforderlich mit dem Ergebnis einer Hodennekrose, einer Resektion, der Anlage einer Prothese und Impotenz.

Das Gericht hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger 20.000 EUR zu zahlen. Ferner hat es festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle dem Kläger zukünftig noch entstehenden immateriellen Schäden, soweit diese nicht vom Zahlungsantrag miterfasst und nicht vorhersehbar sind, sowie alle zukünftig noch entstehenden materiellen Schäden, die ihm aus der stationären Behandlung entstanden sind, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Träger der Sozialversicherung oder Sozialhilfe übergegangen sind oder noch übergehen werden.

Die Trägerin des Krankenhauses haftet dem Patienten aus schuldhafter Vertragsverletzung und unerlaubter Handlung unter dem Gesichtspunkt der eigenmächtigen Behandlung, nämlich des unerlaubten Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit. Der Patient und Kläger hatte mangels rechtzeitiger Aufklärung nicht wirksam in den Eingriff eingewilligt. Fehlt es an einer rechtzeitigen Aufklärung, so liegt keine wirksame Einwilligung vor. Die Beklagte hat für alle Folgen der Behandlung ein zu stehen, gleich, ob sich ein aufklärungspflichtiges Risiko oder eine sonstige Schadensfolge verwirklicht hat.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahren kann. Danach kann unter bestimmten Umständen sogar eine Aufklärung am Vorabend der Operation schon bedenklich sein. Eine Aufklärung bei stationärer Behandlung, die erst am Tage des operativen Eingriffs erfolgt, ist, von Notfällen abgesehen, regelmäßig zu spät.

Nach dem Gutachten des Sachverständigen ist die Entwicklung einer postoperativen ischämischen Orchitis mit der Folge einer Hodennekrose und einem irreversiblen Schaden am Hoden eine typische, mögliche Operationsfolge. Bei mehrfachen Leistenhernienrezidiveingriffen liegt das Risiko des Auftretens einer ischämischen Orchitis bei bis zu 10%. Wegen der Unumkehrbarkeit eines einmal eingetretenen ischämischen Schadens des Hodens bestehe, insbesondere weil es sich um die dritte Operation der Leiste handelte, eine besondere Aufklärungspflicht.

Für ihre Behauptung, der Kläger sei am Vortag der Operation ambulant untersucht und aufgeklärt worden, ist die Beklagte beweisfällig geblieben. Der Zeitpunkt der Aufklärung ist in dem Formular über das Aufklärungsgespräch nicht dokumentiert. Die Krankenunterlagen sind daher nicht geeignet, den von der Beklagten behaupteten Aufklärungszeitpunkt zu belegen.

Vorliegend war auch nicht von einer hypothetischen Einwilligung auszugehen. Der Kläger konnte plausibel einen Entscheidungskonflikt vorgetragen, so dass nicht davon ausgegangen werden musste, dass er bei einer rechtzeitigen Aufklärung eingewilligt hätte. Das Gericht hielt es für nachvollziehbar, dass der Kläger unter den erhöhten Risiken einer dritten Leistenbruchoperation sich ernsthaft die Frage gestellt hätte, ob er sich im Krankenhaus der Beklagten operieren lassen würde, die über eine keigene urologische Abteilung verfügte.