Zahlungsunfähigkeit muss im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorliegen
Bundesgerichtshof, 27.06.2006 – IX ZB 204/04
Nach einem aktuellen Urteil des Bundesgerichtshofes setzt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Insolvenzgrund im Zeitpunkt der Eröffnung voraus. Lagen die Eröffnungsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Eröffnung nicht vor, ist der Eröffnungsbeschluss aufzuheben und der Eröffnungsantrag abzuweisen. Waren die Eröffnungsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Eröffnung erfüllt, kann der nachträgliche Wegfall des Insolvenzgrundes nur im Wege des § 212 InsO geltend gemacht werden.
Das örtliche Finanzamt beantragte mit Schreiben vom 17. November 2003 nach erfolglosen Vollstreckungsversuchen wegen offener Steuerforderungen in Höhe von 12.833,12 Euro die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners. Die spätere vorläufige Insolvenzverwalterin wurde daraufhin vom Insolvenzgericht zunächst mit der Erstattung eines Gutachtens zur Frage der Zahlungsunfähigkeit beauftragt und am 13. Februar 2004 zur vorläufigen Insolvenzverwalterin bestellt. Dem Insolvenzschuldner wurde ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt. Am 3. Mai 2004 legte die vorläufige Insolvenzgutachterin ein Gutachten vor, das den Schuldner für zahlungsunfähig erklärte:
Die freie Masse habe einen Wert von 26.464,20 Euro. Sie bestehe aus einem Konto des Schuldners von 212,17 Euro, dem Verwalterkonto von 24.617,44 Euro, einem Bausparvertrag von 311,39 Euro, Anfechtungsansprüchen von 1.309,20 Euro sowie Erinnerungswerten für das möglicherweise wertausschöpfend belastete Wohn- und Betriebsgrundstück, für die Geschäfts- und Betriebsausstattung, für zwei Fahrzeuge, deren Papiere der Schuldner nicht vorgelegt habe, für möglicherweise an Dritte abgetretene Lebensversicherungen sowie für verschiedene nicht nachprüfbare Forderungen aus einer Debitorenliste des Schuldners. Verbindlichkeiten bestünden in Höhe von 28.303,14 Euro. Eine Kreditorenliste des Schuldners vom 2. Dezember 2003 ende mit einem Betrag von 24.959,76 Euro. Zwischenzeitliche Zahlungen des Schuldners seien anfechtbar und daher nicht zu berücksichtigen. Hinzu kämen Rücklastschriften aus dem Zeitraum 24. Februar bis 4. März 2004 in Höhe von 3.337,98 Euro. Berücksichtige man zusätzlich noch die Kosten des Insolvenzgerichts für das Antragsverfahren sowie für die vorläufige Verwaltung in Höhe von 5.997,32 Euro, betrage die Deckungsquote im Verhältnis zur Geldliquidität 65,78 %, im Verhältnis zur errechneten freien Masse 72,3 %.
Am 4. Mai 2004 ist das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet und die vorläufige Verwalterin zur Insolvenzverwalterin bestellt worden. Die sofortige Beschwerde des Schuldners gegen den Eröffnungsbeschluss ist zurückgewiesen worden. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Schuldner seinen Antrag auf Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses und Zurückweisung des Eröffnungsantrags weiter.
Das Beschwerdegericht hatte ausgeführt, dass im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 4. Mai 2004 der Schuldner zahlungsunfähig gewesen sei. Verbindlichkeiten von insgesamt 28.303,14 Euro hätten flüssige Mittel von nur 25.141 Euro gegenüber gestanden. Nicht zu berücksichtigen seien die ermittelten Forderungen aus Insolvenzanfechtungen sowie die Erinnerungswerte für ein belastetes Grundstück, die Betriebs- und Geschäftsausstattung und den Fuhrpark, weil es sich insoweit nicht um Mittel handele, die innerhalb eines Zeitraumes von zwei bis drei Wochen verfügbar seien. Gleiches gelte für die drei Lebensversicherungen, die nicht innerhalb dieses Zeitraums liquidiert werden könnten. Für die Entscheidung über die sofortige Beschwerde des Schuldners komme es jedoch darauf an, ob der Schuldner im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung zahlungsunfähig sei. Bestimmte Verbindlichkeiten, die in der ersten Kreditorenliste enthalten, mittlerweile aber getilgt worden seien, dürften nicht mehr berücksichtigt werden. Eine am Betriebsgrundstück des Schuldners grundpfandrechtlich gesicherte Darlehensforderung in Höhe von 56.660,45 Euro, die wegen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fällig gestellt worden sei, sei demgegenüber beachtlich, zumal sie auch zur Tabelle angemeldet worden sei. Damit betrügen die Verbindlichkeiten insgesamt 81.510,66 Euro, denen liquide Mittel des Schuldners von nur 56.249,71 Euro gegenüberstünden. Die zur Sicherung des Darlehens bestellte Grundschuld ändere daran nichts. Wegen der gerichtsbekannt langen Dauer von Zwangsversteigerungsverfahren könne sie selbst dann nicht zu einer Befriedigung der Gläubigerin innerhalb von zwei bis drei Wochen führen, wenn ein die Forderung deckender Erlös erzielbar sei; davon könne überdies nicht sicher ausgegangen werden.
Der Bundesgerichtshof widerspricht dieser Entscheidung, da der Eröffnungsgrund muss im Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung vorgelegen haben müsse. Nach Einschätzung der Richter halte die Insolvenzordnung den Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung für maßgeblich. Gemäß § 16 InsO setzt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens voraus, dass ein Eröffnungsgrund gegeben ist. Liegt ein Eröffnungsgrund erst dann vor, wenn über ein Rechtsmittel des Schuldners entschieden wird, vermag dies die Eröffnung zu einem früheren Zeitpunkt nicht zu rechtfertigen. Das zeigt auch die Vorschrift des § 27 Abs. 2 Nr. 3 InsO, nach welcher im Eröffnungsbeschluss die Stunde der Eröffnung anzugeben ist. Der Gesetzgeber der Vorgängervorschrift des § 108 KO hat die genaue Feststellung des Eröffnungszeitpunkts wegen der mit der Konkurseröffnung verbundenen Rechtswirkungen für besonders wichtig gehalten. Mit der Eröffnung verliert der Schuldner das Recht, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen (§ 80 Abs. 1 InsO). Zwangsvollstreckungen für einzelne Insolvenzgläubiger sind während der Dauer des Insolvenzverfahrens weder in die Insolvenzmasse noch in das sonstige Vermögen des Schuldners zulässig (§ 89 Abs. 1 InsO). Prozesse, welche die Insolvenzmasse betreffen, werden unterbrochen (§ 240 ZPO). Die Angabe von Datum und Uhrzeit im Eröffnungsbeschluss soll jegliche Zweifel daran ausschließen, wann diese nachhaltig in Rechte des Insolvenzschuldners und in Rechte Dritter eingreifenden Wirkungen eintreten. Der Genauigkeit, mit welcher Datum und Uhrzeit der Eröffnung festgestellt und beurkundet werden müssen, würde es widersprechen, im Rechtsmittelverfahren das Vorliegen der Eröffnungsvoraussetzungen auch zu einem späteren als dem festgestellten Zeitpunkt ausreichen und die mit der Eröffnung verbundenen erheblichen Eingriffe in Rechte des Schuldners und in Rechte Dritter unverändert bestehen zu lassen.
Nur das Abstellen auf den Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses führt auch zu sachgerechten Ergebnissen. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bewirkt in der Regel eine derartige Verschlechterung der rechtlichen und wirtschaftlichen Lage des Schuldners, dass die vom Insolvenzgericht zu Unrecht bejahte Zahlungsunfähigkeit nunmehr alsbald eintritt. Nach §§ 115, 116 InsO erlöschen die Giroverträge, damit auch eventuell noch bestehende Kreditlinien sowie Einzugsermächtigungen und Abbuchungsaufträge. Darlehen werden gekündigt und gelten unabhängig davon gemäß § 41 InsO als fällig. Der Insolvenzverwalter, der das schuldnerische Unternehmen aus eigener Veranlassung oder nach dem Beschluss der Gläubigerversammlung (§ 158 InsO) nicht fortführt, ist berechtigt und im Interesse der bestmöglichen Verwertung des schuldnerischen Vermögens (§ 159 InsO) gegebenenfalls auch verpflichtet, vom Schuldner als Mieter oder Pächter abgeschlossene Miet- oder Pachtverträge zu beenden (§ 109 InsO), Dienstverträge mit Arbeitnehmern zu kündigen (§ 113 InsO) sowie die Erfüllung beiderseits nicht vollständig erfüllter gegenseitiger Verträge über Lieferungen und Leistungen abzulehnen (§ 103 InsO). Innerhalb kürzester Zeit kann das schuldnerische Unternehmen durch den Verlust von Kunden, Lieferanten und Arbeitnehmern auseinander fallen. Die sofortige Beschwerde wäre daher trotz der Rechtswidrigkeit des Eröffnungsbeschlusses vielfach aussichtslos, wenn es auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ankäme.
Die auf eine zügige Liquidation des Schuldnervermögens ausgerichteten Verfahrensvorschriften der Insolvenzordnung führen zu weiteren Benachteiligungen des Schuldners bei der Prüfung seiner Zahlungsfähigkeit zu einem nach der Insolvenzeröffnung liegenden Zeitpunkt. Da nicht fällige Forderungen mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens als fällig gelten (§ 41 Abs. 1 InsO), müssen bei der Prüfung der tatsächlichen Voraussetzungen des Insolvenzgrundes der Zahlungsunfähigkeit auch die bis zur Eröffnung nicht fälligen Forderungen gegen den Schuldner in die Liquiditätsbilanz eingestellt werden. Ähnlich nachteilig würde sich die Vorschrift des § 52 InsO auswirken. Gläubiger, die abgesonderte Befriedigung beanspruchen können, sind Insolvenzgläubiger, soweit ihnen der Schuldner auch persönlich haftet. Sie sind zwar nur insoweit zur anteilsmäßigen Befriedigung aus der Insolvenzmasse berechtigt, als sie auf eine abgesonderte Befriedigung verzichten oder bei ihr ausgefallen sind. Zunächst dürfen sie jedoch ihre Forderung in voller Höhe zur Tabelle anmelden. Die Ausfallhaftung kommt erst bei der Verteilung der Masse an die Insolvenz-gläubiger zum Tragen. Das Sicherungsgut könnte wegen des bestehenden Absonderungsrechts nicht auf der “Habenseite” der Bilanz berücksichtigt werden.
Zweifel an einer Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im Zeitpunkt der Eröffnung bestanden nach Ansicht der Richter auch unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt. Wie der Bundesgerichtshof nach dem Erlass der Beschwerdeentscheidung entschieden hat, ist ein Schuldner, der seine Verbindlichkeiten bis auf einen geringfügigen Rest bedienen kann, nicht zahlungsunfähig im Sinne von § 17 InsO. Je kleiner die Liquiditätslücke ist, desto begründeter ist die Erwartung, dass es dem Schuldner gelingen wird, das Defizit in absehbarer Zeit zu beseitigen. Liegt eine Unterdeckung von weniger als 10 % vor, genügt sie allein regelmäßig nicht zum Beleg der Zahlungsunfähigkeit. Vielmehr müssen besondere Umstände hinzukommen, welche diesen Standpunkt stützen. Beträgt die Unterdeckung 10 % oder mehr, kann die Zahlungsunfähigkeit umgekehrt nur durch die Feststellung konkreter Umstände ausgeschlossen werden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, dass die Liquiditätslücke zwar nicht innerhalb von drei Wochen – dann läge nur eine Zahlungsstockung vor -, immerhin in überschaubarer Zeit beseitigt wird.
Anmerkung: Wie der Bundesgerichtshof zutreffend ausführt, ist die Durchführung eines Insolvenzverfahrens nur dann sachgerecht, wenn der Insolvenzgrund (der Zahlungsunfähigkeit) zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung vorliegt, da die mit der Verfahrenseröffnung einhergehenden Folgen erheblich in die Rechte des Schuldners eingreifen. Im Zusammenspiel mit der Konkretisierung des Begriffs der Zahlungsunfähigkeit haben potentielle Insolvenzschuldner durchaus Handhaben, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu verhindern. Im Einzelfall ist sehr genau zu prüfen, ob bereits Zahlungsunfähigkeit oder nur eine Zahlungsstockung gegeben ist.