Anzeige einer Massenentlassung zwingend vor Ausspruch der Kündigungen

BAG, 23.03.2006, 2 AZR 343/05

Der zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat seine Rechtsprechung zur Anzeige von Massenentlassungen gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG geändert. Nunmehr gilt: Der Arbeitgeber hat vor dem Ausspruch der Kündigungen die Entlassungen anzuzeigen. Bislang konnten die Entlassungen auch nach der Kündigung angezeigt werden, soweit sie rechtzeitig vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses erfolgten.

Sachverhalt
Der klagende Arbeitnehmer war seit 1994 bei einer GmbH tätig, die insgesamt 23 Arbeitnehmer beschäftigte. Die GmbH kündigte am 30.07.2004 aus betriebsbedingten Gründen alle Arbeitsverhältnisse, den Arbeitsvertrag des Klägers zum 31.08.2004. Am 01.08.2004 wurde über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger vorsorglich erneut mit Schreiben vom 02.08.2004 zum 30.09.2004. Am 02. und 25.08.2004 zeigte der verklagte Insolvenzverwalter der Bundesagentur für Arbeit die Entlassungen an. Der Kläger hält die Kündigungen für unwirksam, da die Anzeige der Massenentlassungen vor dem Ausspruch der Kündigungen hätten erfolgen müssen.

Entscheidung
Die Kündigung verstößt zwar gegen §17 Abs. 1 S. 1 KSchG, da die Massenentlassung vor der Kündigungserklärung hätte angezeigt werden müssen; der Verstoß führt aber nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, da der Arbeitgeber in seinem Vertrauen auf die bisherige Verwaltungspraxis und Rechtslage zu schützen ist.

Nach § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG muss der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit die Massenentlassung anzeigen, bevor er innerhalb von 30 Tagen eine im Gesetz näher genannte Zahl von Arbeitnehmern entlässt. Maßgeblicher Zeitpunkt der Entlassung war nach der bisherigen Rechtsprechung das Datum der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, so dass die Anzeige auch noch nach der Erklärung der Kündigung erfolgen konnte.

Das Gericht änderte seine Rechtsprechung vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 27.01.2005 (Rs.: C-188/03 – Junk). Nach dieser Entscheidung des EuGH ist der Begriff der “Entlassung” in § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG im Lichte der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (MERL) auszulegen, die durch §§ 17 ff. KSchG umgesetzt wird. Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, dass bereits die Kündigungserklärung des Arbeitgebers als “Entlassung” im Sinne der MERL gilt.

Nicht entschieden hat das BAG, ob die verspätete Massenentlassungsanzeige die Unwirksamkeit der Kündigungen zur Folge hat oder lediglich dazu führt, dass die Entlassungen nicht vollzogen werden dürfen. Arbeitgeber durften bis zum Bekanntwerden der EuGH-Entscheidung vom 27.01.2006 auf die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und die Verwaltungspraxis der Bundesagentur für Arbeit vertrauen, die eine Anzeige nach der Kündigungserklärung ausreichen ließen.

Konsequenzen
In Zukunft hat die Anzeige einer Massenentlassung zwingend vor dem Ausspruch der Kündigung zu erfolgen. Für Kündigungen bis jedenfalls zum 27.01.2005 gilt: Arbeitgeber werden in ihrem Vertrauen auf die Verwaltungspraxis der Arbeitsagenturen und die Rechtsprechung geschützt, so dass die fraglichen Kündigungen jedenfalls wegen der “verspäteten” Massenentlassungsanzeige nicht unwirksam sind.